Der Vorsatz Gottes
von
T. Austin-Sparks
Es ist bei der Betrachtung der vielfältigen
Aktivitäten und Energien Gottes eine immense Hilfe, wenn es uns
gelingen könnte, alles in einem inklusiven, umfassenden und
konkreten Gesichtspunkt zusammen zu sehen. Die Bibel umspannt,
von der Genesis bis zur Offenbarung ein weites Gebiet und umfasst
eine grosse Menge von Gegenständen, doch hat sie ein alles
beherrschendes und schlüssiges Ziel. Es gibt einen klaren
Vorsatz Gottes, und es gibt nur diesen einen. Stets wird in der
Einzahl auf ihn Bezug genommen. «Nach seinem Vorsatz berufen»
(Röm. 8,28); «nach dem Vorsatz...» (Eph. 3,11); «nach seinem
eigenen Vorsatz» (2. Tim. 1,9). Es sind nicht eine
unterschiedliche Anzahl von Dingen; es ist ein einziger Vorsatz.
Und worin besteht dieser eine, einzige,
umfassende Vorsatz? Die Antwort lautet: Christus! «Sein Sohn,
Jesus Christus». Und wenn wir weiter fragen: «Was ist mit
diesem Sohn?», heisst die Antwort: «Er soll alle Dinge
erfüllen und alle Dinge in sich schliessen. Dass dem so ist,
wird durch die entschiedenen Aussagen der Schrift deutlich:
«Denn in Ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde
geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare... alles ist
durch Ihn und zu Ihm hin geschaffen».
«Denn es gefiel der ganzen Fülle, in Ihm
zu wohnen» (Kol. 1,16.19). «Den Er zum Erben aller Dinge
eingesetzt hat, durch den Er auch die Welten (die Zeitalter)
gemacht hat» (Hebr. 1,2).
So müssen denn, im Ratschluss Gottes, alle
Dinge in Christus als dem Haupt zusammengefasst werden. Gott ist
damit beschäftigt, Christus (in die Dinge) einzubringen und (die
Dinge) in Christus hineinzubringen. Wenn wir wirklich «Gottes
Mitarbeiter» sein möchten, muss dies auch unser einfältiges
Ziel und unsere Beschäftigung sein. Das definiert präzise den
Vorsatz der Gemeinde.
Die Gegenwart der Gemeinde in dieser Welt
besteht erstens darin, hier ein gemeinschaftlicher Ausdruck von
Christus zu sein. Schon allein die Bezeichnung «der Leib
Christi» bedeutet: Christus gemeinschaftlich gegenwärtig. Die
Gemeinde ist keine Institution, Organisation, Gesellschaft oder
religiöse Bruderschaft. Sie ist der Absicht Gottes
entsprechend die Verkörperung Seines Sohnes und damit die
Fortsetzung Seines Lebens und Werkes auf dieser Erde. An zweiter
Stelle, also nach dem, was sie ihrem Wesen nach ist, kommt ihr
Werk. Das ist ein und dasselbe, und durch das eine Ergebnis steht
oder fällt ihr Werk. Dieses Werk soll für eine Zunahme von
Christus in dieser Welt sorgen, und das soll entlang zweier
Linien vollbracht werden, nämlich durch die Verkündigung des
Evangeliums und durch Aufbauen.
Die Verkündigung des Evangeliums bringt
Christus ursprünglich in Menschenleben hinein.
Bei jedem neuen Fall, wo Christus in ein Leben hinein kommt,
handelt es sich um ein zusätzliches Mass von Christus in dieser
Schöpfung, und so entsteht eine neue Schöpfung. Es ist von
höchster Dringlichkeit, dass es nie bei einer blossen mentalen
Zustimmung, einem emotionalen Eindruck, oder einem bloss
äusserlichen Akt der Akzeptanz bleiben darf, sondern Christus
soll durch Seinen Geist wirklich im Innern Wohung nehmen. Aber es
ist nicht unsere Absicht, die Verkündigung des Evangeliums zu
behandeln; vielmehr wollen wir ihr Ziel aufzeigen: nämlich Christus
in die Dinge hinein zu bringen und die Dinge in Christus hinein.
Der andere Zweck der Gemeinde ist das
Aufbauen. In den bekanntesten Ausgaben des Neuen Testamentes wird
diesbezüglich das Wort «Erbauung» verwendet. Doch aufbauen ist
viel besser. Die Gemeinde soll «sich selbst aufbauen. Wir sollen
«uns gegenseitig aufbauen». Geistliche Gaben und Dienste wurden
nur gegeben, um aufzubauen. Was aber bedeutet dieses
«Aufbauen»? Es ist die Zunahme Christi. Das Neue Testament
spricht wiederholt von «Säuglingen in Christus» und von
«erwachsenen Menschen» in Christus; und es besteht auch ein
ständiges Drängen, «zum vollen Mannesalter» voranzuschreiten.
Also, durch Extensivierung und Intensivierung, durch äusserliche
und innerliche Zunahme soll Christus einen immer grösseren Platz
einnehmen. Wir wiederholen: durch verschiedene Wege und Mittel
wird Gott von diesem einen, alles dominierenden Gegenstand
beherrscht von Seinem Sohn.
Aber da gibt es einen Punkt, der unbedingt
stark betont und im Auge behalten werden muss. Diese beiden
Dinge, die Verkündigung des Evangeliums und das Aufbauen sind
nicht zwei verschiedene Dinge; sie müssen zusammen gesehen
werden. Werden sie auseinander genommen, oder erhält das eine
ein grösseres Gewicht als das andere, entsteht ein
unausgeglichener Zustand, und das wird Gottes eigentliches Ziel
verhindern. Wird der Verkündigung des Evangeliums mehr Platz
eingeräumt als dem Aufbau, oder unter Ausschluss des andern,
dann ist das Ergebnis eine grosse Zahl von geistlichen
Säuglingen, die so bleiben, ganz gleich, wie lange sie leben
mögen. Dann existiert eine überwiegende Zahl von Christen, die
denen gleichen, von denen der Verfasser des Hebräerbriefes
spricht: «Denn während ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet,
habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, was die
Anfangsgründe der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche
geworden, die Milch nötig haben, und nicht feste Speise» (Hebr.
5,12). Dadurch, und durch das, was unmittelbar darauf folgt,
macht der Apostel hinreichend deutlich, dass Gott nie damit
zufrieden gestellt werden kann, dass er einfach noch so viele
«Bekehrte», wiedergeborene Babies, bekommt. Sein Ziel fordert
vielmehr, dass diese eine geistliche Stellung erreichen, dass sie
alles aufnehmen können, was Er an geistlicher fester Speise zu
geben hat, und dass sie geistlich geübte Sinne haben, indem sie
«im Worte erfahren[1]» sind und ein
geistliches Unterscheidungsvermögen besitzen. All dies bedeutet
dasjenige, was Paulus «das Mass Christi» nannte, und das Ziel,
das er im Visier hatte: «bis zum vollen Mass der Fülle
Christi».
Andererseits wiederum: Wird dem Aufbauen
gegenüber der Evangeliumsverkündigung ein unverhältnismässig
grosser Platz eingeräumt, haben wir eine weitere Missbildung. So
entsteht eine Übergeistlichkeit, die von allem Praktischen
abgekoppelt ist. Früher oder später wird die «Wahrheit» an
die Stelle des Lebens treten. Das Mentale wird das wahrhaft
Geistliche ausmanövrieren. Das schlimmste, was dabei
herauskommen kann, ist, dass diejenigen, die es betrifft, sich in
einer falschen Position befinden, die den Prüfungen des echten
Lebens, des Ausdrucks von Christus, unter den Menschen und
Bedingungen dieser Welt nicht standhalten kann. Denn der
wirkliche Beweis für echtes, geistliches Leben liegt in seiner
Fähigkeit, Christus in einer unsympathischen, verständnislosen
und feindlichen Welt in Liebe, Langmut, Geduld, Sanftmut und
Selbstvergessenheit zum Ausdruck zu bringen. Dies bedeutet
wiederum nicht, dass sowohl die Verkündigung des Evangeliums als
auch der Aufbau eingeschränkt werden sollten, doch dieses eine
bedeutet es ganz bestimmt: dass zwischen den beiden eine enge
Beziehung bestehen muss.
Das wird in der Tatsache schlagend deutlich,
dass die Apostel des Neuen Testamentes diese beiden Dienste in
einer solchen Fülle kombinierten. Sie evangelisierten gewaltig;
doch was für einen immensen Dienst des Aufbaus vollbrachten sie
obendrein! Wohin immer sie kamen, brachten sie Christus ein, und
wo immer sie gewesen waren, brachten sie Ihn in immer
zunehmender Fülle ein. Das Entscheidende ist die Kombination von
beidem. In der Angelegenheit der Dienstgaben an die Gemeinde sind
der Evangelist, der Pastor und der Lehrer komplementäre Dienste.
All das ist gewiss sehr offenkundig. Aber wo
befinden wir uns jetzt? Wir zögern nicht, zu sagen, dass die
Beziehung zwischen diesen zwei Dingen in keiner Weise zu gleichen
Teilen bewahrt worden ist. Tatsache ist, dass es eine
überwiegende Zahl von Christen gibt, die, auch nach vielen
Jahren, noch geistliche Babies sind, traurigerweise unreif; ohne
Verständnis in geistlichen Dingen; ohne Aufnahmevermögen (und
auch ohne Appetit) für «starke Speise». Daraus ergibt sich,
dass der Eindruck und die Wirkung Christi in dieser Welt in
keinem Verhältnis steht weder zur Zeitspanne, seit der das
Christentum existiert, noch zur Anzahl von Christen auf Erden.
Ein paar wenige starke, gesunde und «erfahrene» Kinder Gottes
zählen ein grosses Stück mehr als eine grosse Zahl von
Christen, deren Reife ungehörig hinausgezögert wurde. Es bleibt
daher noch sehr viel zu tun, wenn dieser unausgeglichene Zustand
beseitigt und die Kinder Gottes in den Zustand und in die Postion
gebracht werden sollten, die ihnen «der Zeit nach» zustünde.
Das bedeutet, dass ein echtes Bedürfnis und
Erfordernis für einen «Dienst der Fülle Christi» an die
Christen unserer Zeit besteht . Was die Welt am meisten
benötigt, ist Christus in grösserer Fülle, und dies kann nur
in der und durch die Gemeinde, sein erwähltes Gefäss,
geschehen. Doch wir wiederholen: Jeder solcher Dienst darf nicht
bei sich selber stehen bleiben. Er muss zu einer stärkeren,
reicheren und volleren Verkündigung des Evangeliums führen. Das
will heissen, dass die Christen durch ihn in eine Stellung
gelangen müssen, in der sie mehr von Christus haben, etwas, das
sie demonstrieren und weiter vermitteln können. Das also ist
unsere Empfindung hinsichtlich der Berufung: «zur Zurüstung der
Heiligen für das (damit sie imstande werden, es zu tun) das Werk
des Dienstes»; wobei das Wort «Zurüstung» «vollkommen oder
vollständig machen» bedeutet.
Wir fassen zusammen: Gottes Ziel ist es,
Seinen Sohn in Fülle einzubringen. Dies ist der Zweck und die
Natur von Wesen und Werk der Gemeinde. Die Methode ist
zwiefältig: Evangeliumsverkündigung und Aufbau. Diese beiden
müssen in enger Vergbindung mit einander, also komplementär,
bewahrt werden, und sie müssen im Gleichgewicht gehalten werden.
Dieses Gleichgewicht wurde nicht bewahrt, und es
gibt deshalb viele Christi, deren geistliche Reife und Kapazität
dadurch ungehörig verzögert wurde. Es besteht daher eine
vollkommen unangemessene Registrierung, Wirkung und ein
unangemessener Eindruck, was Christus betrifft, wenn man bedenkt,
wie lange es das Christentum schon gibt und wie viele Christen es
gibt. Es besteht daher das Bedürfnis nach einem Dienst, durch
den Christen geholfen werden kann, die Position zu
erreichen, wie Gott es für sie wünscht und beabsichtigt. Ein
solcher Dienst darf sich nicht darin erschöpfen, dass Leute an
Lehren als etwas in sich selbst Bestehendes Interesse finden und
sich damit beschäftigen, vielmehr soll es unter den Völkern
dieser Welt zu einer reicheren und volleren Repräsentation
Christi kommen. Wir haben die Wahrheit missverstanden, wenn sie
dazu führt, dass wir weniger Interesse für die Zunahme von
Christus durch die Errettung von Sündern und die
Hilfsbereitschaft der Geretteten haben. Die Wahrheit sollte uns
nie auf uns selbst zurückwerfen, sondern sollte uns das
Bewusstsein vermitteln, dass wir unter einer grossen Schuld
andern gegenüber stehen.
Dann müssen wir auch erkennen, dass es
bestimmte Dinge gibt, die für eine geistliche Entwicklung
grundlegend sind. Eines davon ist die wesenhafte organische
Einheit von allen, die «in Christus» sind. Kein Einzelner, auch
keine Anzahl von Einzelnen, können als solche zum vollen
Mannesalter in Christus gelangen; das ist nur für «den ganzen
Leib» möglich. Jede Art von Trennung unter Christen ist eine
Verstümmelung Christi («ist denn Christus zerteilt» bzw.
zerstückelt? 1. Kor. 1,13), und das steht dem Heiligen
Geist entgegen, durch dessen Werk allein wir zur vollen
Mannesreife gelangen können. Darum müssen die Gläubigen jeden
schismatischen und trennenden Boden verlassen und den einen Grund
von Christus einnehmen. Am Anfang entstand die Gemeinde
durch die Akzeptanz der absoluten Herrschaft und Hauptesstellung
Christi, und nicht bloss dadurch, dass Er der Erlöser war. «Wir
verkündigen Christus Jesus als Herrn». Sein Erlösertum diente
weitgehend dem Wohl des Menschen, die Herrschaft
jedoch hauptsächlich Seiner Stellung. Diese
Tatsache war der Grund für alle Schwierigkeiten.
Dies also ist der Dienst, von dem wir
glauben, dass der Herr uns dazu berufen hat. Durch tiefe und
drastische Wege hat Er ihn geformt. Wir haben ihn uns nicht
angemasst, und wir können nur weitergeben, was Er gegeben hat.
Wir waren stets bestrebt, vor blosser Theorie bewahrt zu werden,
und wir glauben, dass der Herr gerade darin treu gewesen ist;
aber es war kostspielig.
Und nun, Brüder, wie können wir
zusammenfassen, was wir als unsere Last empfinden? Vielleicht auf
keine bessere Weise als mit den Worten des Apostels: «Indem wir
jeden Menschen lehren und jeden Menschen ermahnen, damit wir
jeden Menschen vollkommen (d.h. erwachsen) in Christus
darstellen».
[1] Vgl. Hebr. 5,13
Elberfelder unrevidiert
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